Status: | Beschluss |
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Beschluss durch: | 48. Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 29.04.2023 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Auf Augenhöhe - Forderungen für ein gestärktes Ostdeutschland
Beschlusstext
Vertrauen in unsere Demokratie und der Zusammenhalt in der Gesellschaft sind für ein solidarisches Miteinander insbesondere in schwierigen Zeiten und sich häufenden Krisen unerlässlich. Wir werden die aktuellen Herausforderungen und die tiefgreifenden Transformationsprozesse nur gemeinsam bewältigen können. Das Vertrauen in unsere Demokratie und der Zusammenhalt in der Gesellschaft können nur gestärkt werden, wenn alle Menschen gleichermaßen Teilhabe und Wirksamkeit erfahren. Die Lebensverhältnisse sind in den ostdeutschen Bundesländern jedoch noch immer nicht gleichwertig mit denen in den westdeutschen Bundesländern.
Existenzielle Sorgen bestehen nicht nur gefühlt, sondern sind auf Grund einer insgesamt schwächeren ökonomischen Situation mit niedrigeren Einkommen und Vermögen oft sehr real. Der kürzlich erschienene Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“ öffnet den Blick für das in Ostdeutschland in der Nachwendezeit Geleistete, offenbart aber auch die erlebten Brüche, Verluste und sich verfestigte Chancenungleichheit und mahnt aufgrund der Verstetigung des Ungleichgewichts dringenden politischen Handlungsbedarf an.
In den letzten Jahrzehnten gewachsenes Misstrauen gegenüber politischen Akteuren wird sich nicht allein mit Sozialprogrammen in Vertrauen in demokratische Prozesse wandeln lassen, wenn Teile der Bevölkerung nach wie vor ungleich behandelt werden, sich nicht durch politisch Handelnde repräsentiert fühlen und nur wenig Gestaltungsmacht auf Entscheidungen haben. Eine notwendige kritische Beleuchtung kann einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung, Vertrauensgewinnung, Stärkung der Demokratie und auch zur Versöhnung der Gesellschaft leisten. Die Ergebnisse dieser kritischen Beleuchtung gehören sowohl in die Tagespolitik als auch in die Schulen und Erwachsenenbildung in der gesamten Bundesrepublik.
Notwendig ist ein stärkerer Einsatz für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West, eine deutliche Steigerung der Repräsentanz Ostdeutscher in Parlamenten und Führungspositionen, eine stärkere Berücksichtigung spezifischer Herausforderungen von Menschen in ländlichen, strukturgeschwächten Regionen und eine umfassende kritische Beleuchtung der Nachwendezeit. Aber auch die politische Kommunikation muss stärker abbilden, dass sie die Belastungen und Sorgen der Menschen im Osten ernst nimmt. Vertrauen in Demokratie als Basis für ein starkes gesellschaftliches Miteinander kann nur gestärkt werden, wenn alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen das Gefühl haben, sich auf Augenhöhe zu begegnen, teilzuhaben und sich selbst nicht als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse wahrnehmen.
Forderungen
- Die Frauen und Männer der ostdeutschen Bürgerbewegung haben es geschafft, viele basisdemokratische Möglichkeiten für Direkte Demokratie und Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in den ostdeutschen Länderverfassungen zu verankern. Dies gab auch den Anstoß für die Erleichterung dieser Verfahren in den alten Bundesländern. Inzwischen ist Brandenburg im Ranking der Einfachheit der Verfahren deutlich zurückgefallen. Um das Vertrauen in die Demokratie zu stärken, den Ostdeutschen Beachtung und Bedeutung und das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu geben, sollten die Hürden gesenkt, Themenausschlusskataloge entschlackt und die freie Unterschriftensammlung für Volksbegehren ermöglichst werden. Die guten Erfahrungen der Runden Tische sollten für aktuelle Diskussionen um Bürgerräte genutzt werden. So haben z.B. Klimabürgerräte gezeigt, dass sie gute Klimaschutzmaßnahmen erarbeiten und dabei teilweise mutiger sind als Parlamente. Das Letztentscheidungsrecht über Vorschläge aus Bürgerräten
muss allerdings bei Volksentscheiden und gewählten Parlamenten verbleiben.
- Auch wenn das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation nicht in Brandenburg entstehen wird, sollte Brandenburg dessen Aufbau und zukünftiges Wirken unterstützen. In ihm können Erfahrungen und Folgen der Umbrüche vor Ort sichtbar gemacht werden, um in der Öffentlichkeit einen Raum für Diskussion zu schaffen und für aktuelle und zukünftige Herausforderungen daraus zu lernen. Wir setzen uns dafür ein, dass das Wirken des Zukunftszentrums in allen ostdeutschen Bundesländern und damit auch in Brandenburg präsent ist.
- Wir setzen uns für einen Lehrstuhl für DDR-Geschichte an einer brandenburgischen Hochschule ein, wie es schon seit Jahren von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefordert wird. Die Forschungsergebnisse sollen sowohl Eingang in die bundesweite Ausbildung der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer als auch in die gesamtdeutsche Erinnerungskultur finden.
- (Neu-)Aufbau sozialer Netzwerke stärken: Die DDR bot über staatliche Institutionen soziale Sicherheit und Gelegenheiten für ein Miteinander. Dies über staatlich nicht gelenktes Ehrenamt oder Gemeinschaftsengagement zu organisieren, war unerwünscht. In den Umbrüchen der 1990er sind diese staatlichen Strukturen weggebrochen. Gleichzeitig erschwerten die persönlichen Herausforderungen der Menschen gemeinschaftliches Engagement und das Wachsen neuer ehrenamtlicher Strukturen. Die Folgen sind noch heute niedrigere Anteile freiwillig engagierter Menschen als in Westdeutschland. Gemeinschaftsengagement und Vereine sind jedoch wichtige Identitätsanker, übernehmen Integrationsfunktionen, sind ein Bleibefaktor für die Menschen und Impulsgeber für die Region. Um das Engagement in Ehrenamt, Gemeinschaft und Vereinsarbeit intensiv und niedrigschwellig zu fördern und zu würdigen, sollte das Land eine Ehrenamtsstrategie nach dem Vorbild von Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen
erarbeiten. In ihr sollten Themen wie Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgerstiftungen etc, die Vernetzung der Akteur*innen sowie Würdigungen wie das Ehrenamtsticket aufgegriffen werden. Außerdem sollte darin thematisiert werden, wie insbesondere Jugendlichen Räume gelassen werden können, die sie selbstorganisiert betreiben, um Selbstwirksamkeit und den Wert eigener Beiträge für Gruppen erleben zu können.
Und für uns BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN?
- Auch bei uns ist Transparenz über die aktuelle Repräsentation und die Stärkung von Brandenburgerinnen und Brandenburgern/Ostdeutschen Biografien notwendig.
- Wir wollen unsere Wurzeln in der DDR-Opposition und der ostdeutschen Bürgerbewegung aktiver würdigen und stärker zum regionalen Markenelement unserer Partei in Brandenburg machen.
Begründung
Niedrigerer Lohn für gleiche Arbeit
Der Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung verdeutlicht, warum in Ostdeutschland eine fehlende soziale Gerechtigkeit als das drängendste Problem wahrgenommen wird. So besteht 32 Jahre nach der Wende nach wie vor ein deutlich ungleiches Lohn- (89% des Durchschnittslohns - 619,- €/Monat Unterschied) und Rentenniveau (ca. 200,- € Unterschied).
Mangelnde Repräsentanz
Ostdeutsche sind nach wie vor deutlich unterrepräsentiert in Führungspositionen in der Verwaltung, Universitäten (1% Rekt./Präs. der 100 größten Hochschulen), Justiz (4,5% Vors. Richter in Ostdt.), Wirtschaft (20% der 100 größten Unternehmen in Ostdt.; >0,1 % Vorstände Dax-Unternehmen) und nicht zuletzt auch der Politik (6% der Staatssekrät.). Als Konsequenz leidet das Gerechtigkeits- und Gleichheitsempfinden der Ostdeutschen und das Vertrauen in Staat und Gesellschaft nimmt ab. Ungleichheiten können oft nicht identifiziert und sozialverträglich gelöst werden, weil die Perspektive der Benachteiligten fehlt und Betroffene nicht Gestalter sind. Die negativen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sozialintegration sind gravierend und allgegenwärtig. So haben 40% der Ostdeutschen das Gefühl „Bürger zweiter Klasse“ zu sein und fast 70% der Ostdeutschen sind unzufrieden mit der Demokratie.
Ohne ausreichend Repräsentanz und Gestaltungsmacht von Ostdeutschen fehlt eine wichtige Perspektive bei der Gestaltung der Lebensbedingungen im Osten. Zwischen politischen Repräsentanten und der von politischen Entscheidungen Betroffenen manifestiert sich ein Bruch im Erfahrungshorizont und als Folge in der Wahrnehmung von Problemen, Erwartungen und Ängsten. Die politische und gesellschaftliche Gestaltung in Ostdeutschland findet als Folge nur unzureichend von Menschen statt, die durch ihre Herkunft mit der Region verbunden sind und mit den Menschen der Region einen gemeinsamen Erfahrungshorizont teilen.
Die oftmals vorhandenen Ängste und Enttäuschungen der Menschen bei Entscheidungen zu antizipieren und gezielt proaktiv aufzugreifen und authentisch zu kommunizieren, gelingt nur, wenn eigene Erfahrungen oder aus der eigenen Familie heraus die Betroffenheit vor Ort nachvollzogen werden kann.
Leider viel zu oft wird nur die AfD als Möglichkeit gesehen, um den Ostdeutschen das Gefühl zu geben, sie zurück auf die Bühne zu bringen, ihnen Beachtung und Bedeutung zu verschaffen. Zunächst gelang es der Linken, die Stimme der Ostdeutschen zu sein, doch sie verloren diesen Fokus immer stärker und viele wurden frustrierte Nicht-Wähler, die jetzt mit der AfD einen neuen Protestkanal finden, um auf sich, ihre Lebensweise, Sorgen und Ängste aufmerksam zu machen. In den meisten Fällen wird sogar anerkannt, dass die AfD weder adäquate Lösungen bereithält noch traut man der AfD diese Rolle überhaupt zu. Doch um Gehör zu finden und Enttäuschung über die Nachwendezeit und ihre anhaltende Unzufriedenheit auszudrücken, wird oft kein anderer Weg als der Protest bzw. die Protestwahl gesehen.
Strukturgeschwächte Infrastruktur
In weiten Teilen des Landes ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur die wirtschaftliche Infrastruktur verschwunden, die ganze Generationen auf der Suche nach einer Perspektive in die alten Bundesländer abwandern ließ.
Der wirtschaftliche Transformationsprozess nach der Wende war ein radikaler Deindustrialisierungsprozess und ging mit einem massiven Beschäftigungsabbau und -umbau einher. Allein bis 1991 verringerte sich die Anzahl der regulär Beschäftigten in Ostdeutschland um 1/3 (3,2 Mio.). So manche Ingenieurinnen und Ingenieure fand sich als Hilfsarbeiterin und Hilfsarbeiter wieder. Oftmals erlebte Demütigungs- und Entwertungserfahrungen, Chancenungleichheit und der Verlust von sozialer Sicherheit wirken bis heute in Verunsicherungen, Frustration und Ängsten nach. Diese Erfahrungen lassen die Menschen sensibel für Versprechen zukünftiger Transformationsprozesse werden.
Aber auch die Infrastruktur für ein funktionierendes Gemeinwesen und zum Erleben von Solidarität, ging oftmals ersatzlos in der Nachwendezeit verloren. Viele Regionen in Ostdeutschland und insbesondere in Brandenburg gelten als strukturschwach, müssten mit Blick auf die Nachwendezeit aber eigentlich als strukturgeschwächt bezeichnet werden. Die schwache Sozial- und Verkehrsinfrastruktur ist nicht naturgegeben, sondern das Verschwinden von Schulen, Arztpraxen, lokalen Einkaufsmöglichkeiten und dörflichen Lebensmittelläden, Gaststätten, Kulturhäuser, kleinere Discotheken, Bahnhöfe und Bahnverbindungen, kulturellen Einrichtungen oder Vereinen ist oftmals das Ergebnis politischen Handelns der letzten Jahrzehnte. Schulkinder sind oftmals schon morgens eine Stunde mit dem Schulbus unterwegs, bevor der Unterricht überhaupt beginnt und starten dadurch mit schlechteren Lernchancen ins Leben. Bahnstrecken wurden stillgelegt, Ortschaften abgehängt und Bahnhöfe verfallen oder sind bereits abgerissen. Industriebetriebe wurden verkauft oder geschlossen. Ein großer Teil der Agrarflächen und viele Immobilien gingen an externe Investoren ohne Bezug zum Brandenburger Land und der damit verbundenen Verantwortung und dem nötigen Verständnis für die Region.
Durch den Wegfall von Arbeitsplätzen, der Ausweitung von prekären Arbeitsverhältnissen und auf der Suche nach besseren Einkommens- und Berufschancen sind vor allem junge, gut ausgebildete Ostdeutsche nach Westdeutschland abgewandert. Dadurch fehlen nicht nur Fachkräfte, sondern auch Nachwuchs für das Fortbestehen oder Neuentstehen von generationsübergreifender Gemeinschaft, Kultur oder innovativen Unternehmen.
Die Vergangenheit verstehen, um Zukunft zu gestalten
Die Erfahrungen und Langzeitfolgen der flächendeckenden Transformation in der Nachwendezeit sind allgegenwärtig. Nur durch eine umfassende Reflexion der Nachwendezeit lassen sich Maßnahmen und Rahmenbedingungen für die anstehenden Transformationsprozesse und die Stärkung von Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt ableiten. Zukunft braucht Herkunft. Solidarität mit anderen setzt Solidarität innerhalb der Gesellschaft voraus.
Studien zeigen, dass das rassistische und fremdenfeindliche Potential in Ostdeutschland relativ gering ist und nur selten der Grund für eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD ist. Verbreitet hingegen ist das Gefühl „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, als Folge einer „Bevormundung“ durch in ihrem Selbstverständnis gestärkte Westdeutsche, die zwar die Regeln der Nachwendezeit bestimmten, selbst aber nicht betroffen waren. Als Folge dieser eigenen Abwertungserfahrung werden andere Gruppen, insbesondere Migranten, abgewertet. Intrinsische Fremdenfeindlichkeit spielt tatsächlich seltener eine Rolle. Nationalistische Forderungen haben ihre Ursache oft in dem Gefühl, dass Politik Prioritäten vorbei an den Lebensrealitäten der Menschen setzt. So wird Flüchtlingshilfe nicht als falsch angesehen, aber in der Wahrnehmung bleiben stattdessen Anstrengungen aus, um die Lebensbedingungen in Ostdeutschland zu verbessern. Sie fühlen sich von der Politik verlassen, während in Flüchtlingshilfe investiert wird.