Antrag: | Rückenwind für Inklusion: Jedes Kind hat das Menschenrecht auf inklusive Bildung |
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Antragsteller*in: | Steffi Bernsee (KV Barnim) |
Status: | Angenommen |
Verfahrensvorschlag: | Übernahme |
Eingereicht: | 18.03.2022, 22:00 |
Ä26 zu V5: Rückenwind für Inklusion: Jedes Kind hat das Menschenrecht auf inklusive Bildung
Antragstext
Von Zeile 32 bis 33:
Ganze Tage an den Schulen sollen mehr bieten als Betreuung. Inklusiv kann der Ganztag nur werden, wenn auf Bedürfnisse aller Rücksicht genommen wird. Schüler*innen brauchen - im Einzelfall - auch über das 6. Schuljahr hinaus eine an die Schule angebundene, ganztägige Betreuung. Die Standards für die Ganztagsschule wollen wir hoch ansetzen: Kinder und Jugendliche, die ganze Tage an den Schulen verbringen, brauchen Platz, Ruhe, Bildung, Abenteuer, Sport, Spiel, musische Angebote, Rückzug und Ansprechpartner*innen. Wer hier spart, beschneidet junge Menschen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Blick auf das Lernen muss erweitert werden: formelles und informelles Lernen müssen den gleichen Stellenwert in der Betrachtung des Ganztages erhalten. Lebenspraktisches, soziales und theoretisches Lernen müssen durch ein gemeinsames Curriculum verzahnt werden. Hier bieten sich große Chancen für eine inklusive Organisation der Schule mit starken Beteiligungsmöglichkeiten bis hin zur Selbstbestimmung für alle Schüler:innen.
Rückenwind für Inklusion:
Jedes Kind hat das Menschenrecht auf inklusive Bildung
Wie gerecht ist unsere Gesellschaft? Eine Antwort erhält, wer auf unsere Schulen und Kitas blickt. Denn dort erweist sich, in welchem Maße wir Chancengerechtigkeit und Solidarität verwirklichen. Der Befund ist ernüchternd: Nicht erst durch die Pandemie ist offenbar, dass unser Bildungssystem von dem Ideal eines inklusiven und sozial gerechten Zusammenlebens und Zusammenhaltens sehr weit entfernt ist. Je mehr wir uns auf die Bewältigung aktueller Krisen konzentrieren, um so eklatanter werden Risse und Verwerfungen im sozialen Gefüge. Aus sozialen oder auch gesundheitlichen Gründen werden Benachteiligte immer weiter zurückgeworfen. Unser Bildungssystem wirkt in dieser Hinsicht nach wie vor ausschließend und abwertend. Anstatt jungen Menschen und Familien Rückenwind zu geben, bremst es aus. Es ist Zeit, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten und mit aller Kraft gegenzusteuern. Ein sozial gerechteres Bildungswesen fördert ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben. Dieser Antrag
soll nächste Schritte aufzeigen auf dem Weg zu einer inklusiven und sozial gerechten Brandenburger Bildungslandschaft - trotz und gerade wegen einer seit zwei Jahren andauernden Pandemie.
Inklusiv ist Brandenburg noch lange nicht
Inklusion geht weit über das gemeinsame Lernen von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf hinaus, sondern gründet vielmehr auf einer Haltung der Anerkennung und bejahenden Wertschätzung von Diversität als Ressource für gesellschaftliche Entwicklung. Inklusiver Unterricht bedeutet die individuelle Förderung jedes Kindes.
Brandenburg hat 2009 damit begonnen, Schulen inklusiv zu gestalten. Vieles ist auf halber Strecke steckengeblieben. In den Corona-Jahren kam es zum Stillstand, ja, mancherorts wurde das Rad eher zurückgedreht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen neuen Schwung nehmen und den inklusiven Ansatz verwirklichen. Denn Inklusion kann es nicht halb geben: Jeder Mensch hat das Recht auf gemeinsames Lernen und auf eine ihm/ihr angemessene Förderung. Zurzeit besuchen jedoch nur ca. die Hälfte der Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule. Vor allem sind es die Schüler*innen mit den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung. Schüler*innen, die einen Förderbedarf geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Autismus, Sehen oder Hören haben, werden seltener inklusiv beschult. Von einem inklusivem Bildungssystem sind wir also weit entfernt. Unser Ziel ist es, eines Tages auf ein Schubladendenken in Gänze verzichten zu können und jedes
Kind in seiner Individualität und nach seinen Bedürfnissen zu fördern.
Programm „Gemeinsames Lernen“
Seit dem Schuljahr 2020/21 nehmen in Brandenburg 238 Schulen (166 Grundschulen, 29 Oberschulen, 6 Gesamtschulen und 7 Oberstufenzentren (OSZ) sowie 23 Schulzentren) teil am Landesprogramm „Schulen für gemeinsames Lernen“. Das ist ein Viertel der 923 Brandenburger Schulen. Das bedeutet aber auch: Dreiviertel der Schulen erhalten für Schüler*innen mit entsprechenden Bedarfen eine ausschließlich kindbezogene Förderung personeller, sächlicher sowie räumlicher Ressourcen. Inklusion in der Bildung setzt aber voraus, dass alle Schulen ein Konzept zur Inklusion entwickeln und umsetzen.
Das Landesprogramm "Schulen für gemeinsames Lernen" setzt wichtige Signale, aber in den Pandemiejahren kamen keine Schulen mehr hinzu. Jetzt braucht das Programm dringend neuen Schwung.
- Das Programm sollte schnellstens wieder geöffnet werden. Schulen, die sich beteiligen wollen, sollen auf ihrem Weg zu einer inklusionsorientierten Schulentwicklung unterstützt werden.
- Das Land startet eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zu "Schulen für gemeinsames Lernen", die alle Akteur*innen umfassend über die Ausgestaltung des gemeinsamen Lernens und Auswirkungen individualisierter Lern- und Prüfformate informiert.
- Neben der reinen Förderung der personellen Bedingungen, fordern wir eine Unterstützung der Kommunen in ihrer Verantwortung als Schulträger bei der Bereitstellung der zusätzlichen räumlichen, sächlichen und technischen Ressourcen.
Gymnasien für Inklusion gewinnen
Inklusion betrifft die ganze Gesellschaft – und das gesamte Bildungssystem. Bislang gehen jedoch die Brandenburger Gymnasien einen Sonderweg, der den inklusiven Ansatz konterkariert. Lerndifferenzierter Unterricht an Gymnasien ist zwar bereits jetzt möglich in Brandenburg, wird jedoch kaum umgesetzt. Die pädagogischen Konzepte, Ausstattungen und räumlichen Gegebenheiten auch an Gymnasien sollen jedoch so weiterentwickelt werden, dass diese in der Lage sind, inklusiv zu arbeiten. Denn: Inklusion ist in erster Linie eine Frage der pädagogischen Haltung und in zweiter Linie die Frage der Ressourcen.
Erzwungene Inklusion birgt Risiken, deshalb sollten Gymnasien durch Ressourcenzu-weisung und Unterstützung gewonnen werden, ihr pädagogisches Portfolio zu öffnen. Deshalb fordern wir Modellprojekte, die zeigen, wie es gehen kann.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern Modellprojekte für lernzieldifferentes Arbeiten an Gymnasien.
Multiprofessionelle Teams
Inklusion kann nur gelingen, wenn sich die Schule den Lernenden anpasst – und nicht umgekehrt. Die Kinder und Jugendlichen kommen in ihrer Vielfalt mit extrem unterschiedlichen Ausgangslagen und Bedürfnissen an die Schulen. Lehrkräfte brauchen die Freiheit, Flexibilität und die Ressourcen, sich auf ihre Schüler*innen einzustellen. Eine wichtige Bedingung dafür ist es, dass Menschen unterschiedlicher Professionen zusammenarbeiten zum Wohl aller Schüler*innen. Neben den Lehrkräften sind dies zum Beispiel Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen, Gesundheitskräfte, Psycholog*innen. Teamarbeit soll selbstverständlich sein. Dafür müssen Voraussetzungen geschaffen werden: Zeit für Teambesprechungen, Räume für Gespräche, Therapien etc.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Landesregierung auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarten 400 zusätzlichen Fachkräfte einzustellen.
- Das Land Brandenburg möge in den Standards der Raumprogrammempfehlungen für Schulbauten neben den für Teilungsunterricht geeigneten Klassenräumen den flexibel nutzbaren Anteil für Arbeits-, Ruhe-, Bewegungs- und Besprechungsräume erhöhen.
- Das Konzept der Einzelfallhilfe bzw. Schulbegleitung muss überarbeitet werden. Lernbegleiter*innen müssen an den Schulen direkt angebunden sein, dort ins Team eingebunden werden und fachlich entsprechend der Aufgabe spezifisch fortgebildet werden.
- Lehrkräfte sollen in ihrem Stundendeputat ausgewiesene Zeiten für individuelle Gespräche und Förderung erhalten. Die Zahl der Schulpsycholog*innen und Schulsozialarbeiter*innen wird deutlich ausgeweitet.
Noten ade - Neue Prüfungskultur
Das Lernen an den Schulen muss sich grundlegend wandeln, um diese zu inklusiven Lebens- und Lernorten werden zu lassen. Unsere „Kultur“ der Benotung zwingt die Lehrkräfte, auf Defizite zu schauen und setzt Schüler*innen unter Druck, Stress und Angst. Das widerspricht einer inklusiven pädagogischen Haltung. Der Rahmenlehrplan des Landes bietet mit seiner Kompetenzorientierung und seiner Ausweisung von Niveaustufen bereits einen guten Orientierungsrahmen für die Betrachtung von Lernerfolgen in einem binnendifferenzierten, individualisierten Lernsetting. Darauf aufbauend machen wir uns stark für eine neue, andere Prüfungskultur, weg von Beurteilungen durch Noten und hin zu einer Einschätzung zur Lernentwicklung. Wir fordern, mehr Formen des Feedbacks und der Lernbegleitung zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Umsetzung des im Schulgesetz verankerten Orientierungsrahmens für die Betrachtung von Lernerfolgen in ein binnendifferenziertes, individualisiertes Lernsetting zu integrieren.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen vor, die wissenschaftliche Erforschung anderer Prüfungsformate und einer neuen, konstruktiven Form der Lernbegleitung zu fördern.
- Das Land Brandenburg möge bei der Ausgestaltung der Abiturvereinbarungen Prüfungsformate mit Blick auf Zukunftskompetenzen zulassen.
Inklusiver Ganztag
Ganze Tage an den Schulen sollen mehr bieten als Betreuung. Inklusiv kann der Ganztag nur werden, wenn auf Bedürfnisse aller Rücksicht genommen wird. Schüler*innen brauchen - im Einzelfall - auch über das 6. Schuljahr hinaus eine an die Schule angebundene, ganztägige Betreuung. Die Standards für die Ganztagsschule wollen wir hoch ansetzen: Kinder und Jugendliche, die ganze Tage an den Schulen verbringen, brauchen Platz, Ruhe, Bildung, Abenteuer, Sport, Spiel, musische Angebote, Rückzug und Ansprechpartner*innen. Wer hier spart, beschneidet junge Menschen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Blick auf das Lernen muss erweitert werden: formelles und informelles Lernen müssen den gleichen Stellenwert in der Betrachtung des Ganztages erhalten. Lebenspraktisches, soziales und theoretisches Lernen müssen durch ein gemeinsames Curriculum verzahnt werden. Hier bieten sich große Chancen für eine inklusive Organisation der Schule mit starken Beteiligungsmöglichkeiten bis hin zur
Selbstbestimmung für alle Schüler:innen.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern eine inklusionspädagogische Fortschreibung der Qualitätsmerkmale aus dem Projekt „Qualität an Schulen mit Ganztagsangeboten“.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen vor, einen für Brandenburg geltenden „Qualitätsrahmen Ganztag“ festzulegen, der an den bundesweit formulierten Standards ansetzt.
- Das Land unterstützt die Kommunen und Schulträger bei der inklusionsoptimierten Einbindung der Ganztagsschulen in den Sozialraum bzw. als Teil einer kommunalen Bildungslandschaft.
- Der Landtag soll den Betreuungsbedarf von Schüler*innen (z.B. mit Förderbedarf geistige Entwicklung) ermitteln und für diese Kinder und Jugendliche echte Teilhabe durch ganztägige Förderung auch in den Ferien gewährleisten. Dieser Betreuungsanspruch kann entweder im Kita- oder im Teilhabegesetz verankert werden.
- Der Wechsel zwischen reiner Unterrichtszeit und der Betreuung im Ganztag darf keinen Einfluss auf das Erfordernis von Einzelfallhelfer*innen haben. Dazu müssen die Zuständigkeiten neu geklärt werden.
Inklusionspädagogik statt Sonderpädagogik
Die Lehrer*innenbildung darf nicht hinter den Entwicklungen der Lernkultur hinterherhinken. Inklusionspädagogik sollte selbstverständlicher Bestandteil der Ausbildung und Weiterbildung sein – für jede Lehrkraft an der Schule. Doch damit nicht genug: Auch die Mitarbeitenden von Schulaufsicht, Schulämtern etc. sollten inklusionspädagogisch fortgebildet sein.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Landesregierung auf, sich bei der Verwirklichung der im Koalitionsvertrag angekündigten Koordinierungsstelle Lehrer*innenbildung für inklusionspädagogische Ansätze einzusetzen.
- Das Land setzt die bereitstehenden Mittel ein, um das Fortbildungscurriculum „Gemeinsames Lernen in der Schule“ flächendeckend für alle Lehrer*innen regelmäßig anzubieten.
- Die Formate der Fortbildungen müssen als Veranstaltungen in den Schulen entwickelt und entsprechende Ressourcen für Lehrer*innen (Unterrichtszeiten) und Schüler*innen (Selbstlernkonzepte) bereitgestellt werden.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden sich an die Hochschulen mit der Forderung, die inklusionspädagogischen Anteile als Querschnittsthema in allen Lehramtsstudien und Lehrfächern deutlich zu erweitern.
Lernen - voneinander und miteinander
Die Vermittlung von Verständnis und Wertschätzung zu Diversität, insbesondere gegenüber Menschen mit einer Behinderung, unterschiedlicher sexueller und geschlecht-licher Identität, unterschiedlichen Glaubens oder Herkunft sowie die Aufklärung über deren jeweiliger Belange sollte selbstverständlich ein Bestandteil des Unterrichts, des Schullebens und der pädagogischen Grundhaltung einer jeden Lehrkraft sein.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, Schulbücher und -materialien in jeder Hinsicht (haptisch, optisch und inhaltlich) barrierearm zu gestalten. In Abbildungen und Texten sollten Personen aller Bevölkerungsschichten, unabhängig ihrer Hautfarbe, des Aussehens oder sexueller und geschlechtlicher Identität abgebildet werden.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern mehr Diversität in den Lehrmedien und ihren Formaten, z.B. durch Übersetzung in verschiedene Sprachen (inkl. Braille-Schrift).
Inklusion als gesamtgesellschaftlicher Prozess
Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, in dem Schule zwar eine Schlüsselrolle spielt, aber sicherlich nicht der einzige Bereich ist, der sich verändern muss. Frühkindliche Bildung, Jugendhilfe, berufliche Bildung usw. – Inklusion ist in jedem gesellschaftlichen Bereich ein Menschenrecht. Deshalb sind die hier geforderten Maßnahmen nur kleine Schritte auf einem langen Weg. Inklusion gelingt nur in einer Gesamtstrategie. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern:
- Die Landesregierung möge eine Gesamtstrategie Inklusion entwickeln für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
- Die Landesregierung möge die Umsetzung ihres "Behindertenpolitischen Maßnahmepakets 2.0" auswerten und für die Jahre 2022-2024 fortschreiben.
- Das Land möge Kommunen unterstützen in der Entwicklung inklusiver kommunaler Bildungslandschaften, in denen Schule, Kita, Schulträger, Schulaufsicht, freie Bildungsträger miteinander verzahnt agieren. Einbezogen werden sollen dabei auch die Beratungsstrukturen des Landes und der Kommunen – zur Einschulung, Erziehung, Förderung.
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Von Zeile 32 bis 33:
Ganze Tage an den Schulen sollen mehr bieten als Betreuung. Inklusiv kann der Ganztag nur werden, wenn auf Bedürfnisse aller Rücksicht genommen wird. Schüler*innen brauchen - im Einzelfall - auch über das 6. Schuljahr hinaus eine an die Schule angebundene, ganztägige Betreuung. Die Standards für die Ganztagsschule wollen wir hoch ansetzen: Kinder und Jugendliche, die ganze Tage an den Schulen verbringen, brauchen Platz, Ruhe, Bildung, Abenteuer, Sport, Spiel, musische Angebote, Rückzug und Ansprechpartner*innen. Wer hier spart, beschneidet junge Menschen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Blick auf das Lernen muss erweitert werden: formelles und informelles Lernen müssen den gleichen Stellenwert in der Betrachtung des Ganztages erhalten. Lebenspraktisches, soziales und theoretisches Lernen müssen durch ein gemeinsames Curriculum verzahnt werden. Hier bieten sich große Chancen für eine inklusive Organisation der Schule mit starken Beteiligungsmöglichkeiten bis hin zur Selbstbestimmung für alle Schüler:innen.
Rückenwind für Inklusion:
Jedes Kind hat das Menschenrecht auf inklusive Bildung
Wie gerecht ist unsere Gesellschaft? Eine Antwort erhält, wer auf unsere Schulen und Kitas blickt. Denn dort erweist sich, in welchem Maße wir Chancengerechtigkeit und Solidarität verwirklichen. Der Befund ist ernüchternd: Nicht erst durch die Pandemie ist offenbar, dass unser Bildungssystem von dem Ideal eines inklusiven und sozial gerechten Zusammenlebens und Zusammenhaltens sehr weit entfernt ist. Je mehr wir uns auf die Bewältigung aktueller Krisen konzentrieren, um so eklatanter werden Risse und Verwerfungen im sozialen Gefüge. Aus sozialen oder auch gesundheitlichen Gründen werden Benachteiligte immer weiter zurückgeworfen. Unser Bildungssystem wirkt in dieser Hinsicht nach wie vor ausschließend und abwertend. Anstatt jungen Menschen und Familien Rückenwind zu geben, bremst es aus. Es ist Zeit, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten und mit aller Kraft gegenzusteuern. Ein sozial gerechteres Bildungswesen fördert ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben. Dieser Antrag
soll nächste Schritte aufzeigen auf dem Weg zu einer inklusiven und sozial gerechten Brandenburger Bildungslandschaft - trotz und gerade wegen einer seit zwei Jahren andauernden Pandemie.
Inklusiv ist Brandenburg noch lange nicht
Inklusion geht weit über das gemeinsame Lernen von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf hinaus, sondern gründet vielmehr auf einer Haltung der Anerkennung und bejahenden Wertschätzung von Diversität als Ressource für gesellschaftliche Entwicklung. Inklusiver Unterricht bedeutet die individuelle Förderung jedes Kindes.
Brandenburg hat 2009 damit begonnen, Schulen inklusiv zu gestalten. Vieles ist auf halber Strecke steckengeblieben. In den Corona-Jahren kam es zum Stillstand, ja, mancherorts wurde das Rad eher zurückgedreht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen neuen Schwung nehmen und den inklusiven Ansatz verwirklichen. Denn Inklusion kann es nicht halb geben: Jeder Mensch hat das Recht auf gemeinsames Lernen und auf eine ihm/ihr angemessene Förderung. Zurzeit besuchen jedoch nur ca. die Hälfte der Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule. Vor allem sind es die Schüler*innen mit den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung. Schüler*innen, die einen Förderbedarf geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Autismus, Sehen oder Hören haben, werden seltener inklusiv beschult. Von einem inklusivem Bildungssystem sind wir also weit entfernt. Unser Ziel ist es, eines Tages auf ein Schubladendenken in Gänze verzichten zu können und jedes
Kind in seiner Individualität und nach seinen Bedürfnissen zu fördern.
Programm „Gemeinsames Lernen“
Seit dem Schuljahr 2020/21 nehmen in Brandenburg 238 Schulen (166 Grundschulen, 29 Oberschulen, 6 Gesamtschulen und 7 Oberstufenzentren (OSZ) sowie 23 Schulzentren) teil am Landesprogramm „Schulen für gemeinsames Lernen“. Das ist ein Viertel der 923 Brandenburger Schulen. Das bedeutet aber auch: Dreiviertel der Schulen erhalten für Schüler*innen mit entsprechenden Bedarfen eine ausschließlich kindbezogene Förderung personeller, sächlicher sowie räumlicher Ressourcen. Inklusion in der Bildung setzt aber voraus, dass alle Schulen ein Konzept zur Inklusion entwickeln und umsetzen.
Das Landesprogramm "Schulen für gemeinsames Lernen" setzt wichtige Signale, aber in den Pandemiejahren kamen keine Schulen mehr hinzu. Jetzt braucht das Programm dringend neuen Schwung.
- Das Programm sollte schnellstens wieder geöffnet werden. Schulen, die sich beteiligen wollen, sollen auf ihrem Weg zu einer inklusionsorientierten Schulentwicklung unterstützt werden.
- Das Land startet eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zu "Schulen für gemeinsames Lernen", die alle Akteur*innen umfassend über die Ausgestaltung des gemeinsamen Lernens und Auswirkungen individualisierter Lern- und Prüfformate informiert.
- Neben der reinen Förderung der personellen Bedingungen, fordern wir eine Unterstützung der Kommunen in ihrer Verantwortung als Schulträger bei der Bereitstellung der zusätzlichen räumlichen, sächlichen und technischen Ressourcen.
Gymnasien für Inklusion gewinnen
Inklusion betrifft die ganze Gesellschaft – und das gesamte Bildungssystem. Bislang gehen jedoch die Brandenburger Gymnasien einen Sonderweg, der den inklusiven Ansatz konterkariert. Lerndifferenzierter Unterricht an Gymnasien ist zwar bereits jetzt möglich in Brandenburg, wird jedoch kaum umgesetzt. Die pädagogischen Konzepte, Ausstattungen und räumlichen Gegebenheiten auch an Gymnasien sollen jedoch so weiterentwickelt werden, dass diese in der Lage sind, inklusiv zu arbeiten. Denn: Inklusion ist in erster Linie eine Frage der pädagogischen Haltung und in zweiter Linie die Frage der Ressourcen.
Erzwungene Inklusion birgt Risiken, deshalb sollten Gymnasien durch Ressourcenzu-weisung und Unterstützung gewonnen werden, ihr pädagogisches Portfolio zu öffnen. Deshalb fordern wir Modellprojekte, die zeigen, wie es gehen kann.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern Modellprojekte für lernzieldifferentes Arbeiten an Gymnasien.
Multiprofessionelle Teams
Inklusion kann nur gelingen, wenn sich die Schule den Lernenden anpasst – und nicht umgekehrt. Die Kinder und Jugendlichen kommen in ihrer Vielfalt mit extrem unterschiedlichen Ausgangslagen und Bedürfnissen an die Schulen. Lehrkräfte brauchen die Freiheit, Flexibilität und die Ressourcen, sich auf ihre Schüler*innen einzustellen. Eine wichtige Bedingung dafür ist es, dass Menschen unterschiedlicher Professionen zusammenarbeiten zum Wohl aller Schüler*innen. Neben den Lehrkräften sind dies zum Beispiel Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen, Gesundheitskräfte, Psycholog*innen. Teamarbeit soll selbstverständlich sein. Dafür müssen Voraussetzungen geschaffen werden: Zeit für Teambesprechungen, Räume für Gespräche, Therapien etc.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Landesregierung auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarten 400 zusätzlichen Fachkräfte einzustellen.
- Das Land Brandenburg möge in den Standards der Raumprogrammempfehlungen für Schulbauten neben den für Teilungsunterricht geeigneten Klassenräumen den flexibel nutzbaren Anteil für Arbeits-, Ruhe-, Bewegungs- und Besprechungsräume erhöhen.
- Das Konzept der Einzelfallhilfe bzw. Schulbegleitung muss überarbeitet werden. Lernbegleiter*innen müssen an den Schulen direkt angebunden sein, dort ins Team eingebunden werden und fachlich entsprechend der Aufgabe spezifisch fortgebildet werden.
- Lehrkräfte sollen in ihrem Stundendeputat ausgewiesene Zeiten für individuelle Gespräche und Förderung erhalten. Die Zahl der Schulpsycholog*innen und Schulsozialarbeiter*innen wird deutlich ausgeweitet.
Noten ade - Neue Prüfungskultur
Das Lernen an den Schulen muss sich grundlegend wandeln, um diese zu inklusiven Lebens- und Lernorten werden zu lassen. Unsere „Kultur“ der Benotung zwingt die Lehrkräfte, auf Defizite zu schauen und setzt Schüler*innen unter Druck, Stress und Angst. Das widerspricht einer inklusiven pädagogischen Haltung. Der Rahmenlehrplan des Landes bietet mit seiner Kompetenzorientierung und seiner Ausweisung von Niveaustufen bereits einen guten Orientierungsrahmen für die Betrachtung von Lernerfolgen in einem binnendifferenzierten, individualisierten Lernsetting. Darauf aufbauend machen wir uns stark für eine neue, andere Prüfungskultur, weg von Beurteilungen durch Noten und hin zu einer Einschätzung zur Lernentwicklung. Wir fordern, mehr Formen des Feedbacks und der Lernbegleitung zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Umsetzung des im Schulgesetz verankerten Orientierungsrahmens für die Betrachtung von Lernerfolgen in ein binnendifferenziertes, individualisiertes Lernsetting zu integrieren.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen vor, die wissenschaftliche Erforschung anderer Prüfungsformate und einer neuen, konstruktiven Form der Lernbegleitung zu fördern.
- Das Land Brandenburg möge bei der Ausgestaltung der Abiturvereinbarungen Prüfungsformate mit Blick auf Zukunftskompetenzen zulassen.
Inklusiver Ganztag
Ganze Tage an den Schulen sollen mehr bieten als Betreuung. Inklusiv kann der Ganztag nur werden, wenn auf Bedürfnisse aller Rücksicht genommen wird. Schüler*innen brauchen - im Einzelfall - auch über das 6. Schuljahr hinaus eine an die Schule angebundene, ganztägige Betreuung. Die Standards für die Ganztagsschule wollen wir hoch ansetzen: Kinder und Jugendliche, die ganze Tage an den Schulen verbringen, brauchen Platz, Ruhe, Bildung, Abenteuer, Sport, Spiel, musische Angebote, Rückzug und Ansprechpartner*innen. Wer hier spart, beschneidet junge Menschen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Blick auf das Lernen muss erweitert werden: formelles und informelles Lernen müssen den gleichen Stellenwert in der Betrachtung des Ganztages erhalten. Lebenspraktisches, soziales und theoretisches Lernen müssen durch ein gemeinsames Curriculum verzahnt werden. Hier bieten sich große Chancen für eine inklusive Organisation der Schule mit starken Beteiligungsmöglichkeiten bis hin zur für alle Schüler:innen.
Selbstbestimmung
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern eine inklusionspädagogische Fortschreibung der Qualitätsmerkmale aus dem Projekt „Qualität an Schulen mit Ganztagsangeboten“.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen vor, einen für Brandenburg geltenden „Qualitätsrahmen Ganztag“ festzulegen, der an den bundesweit formulierten Standards ansetzt.
- Das Land unterstützt die Kommunen und Schulträger bei der inklusionsoptimierten Einbindung der Ganztagsschulen in den Sozialraum bzw. als Teil einer kommunalen Bildungslandschaft.
- Der Landtag soll den Betreuungsbedarf von Schüler*innen (z.B. mit Förderbedarf geistige Entwicklung) ermitteln und für diese Kinder und Jugendliche echte Teilhabe durch ganztägige Förderung auch in den Ferien gewährleisten. Dieser Betreuungsanspruch kann entweder im Kita- oder im Teilhabegesetz verankert werden.
- Der Wechsel zwischen reiner Unterrichtszeit und der Betreuung im Ganztag darf keinen Einfluss auf das Erfordernis von Einzelfallhelfer*innen haben. Dazu müssen die Zuständigkeiten neu geklärt werden.
Inklusionspädagogik statt Sonderpädagogik
Die Lehrer*innenbildung darf nicht hinter den Entwicklungen der Lernkultur hinterherhinken. Inklusionspädagogik sollte selbstverständlicher Bestandteil der Ausbildung und Weiterbildung sein – für jede Lehrkraft an der Schule. Doch damit nicht genug: Auch die Mitarbeitenden von Schulaufsicht, Schulämtern etc. sollten inklusionspädagogisch fortgebildet sein.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Landesregierung auf, sich bei der Verwirklichung der im Koalitionsvertrag angekündigten Koordinierungsstelle Lehrer*innenbildung für inklusionspädagogische Ansätze einzusetzen.
- Das Land setzt die bereitstehenden Mittel ein, um das Fortbildungscurriculum „Gemeinsames Lernen in der Schule“ flächendeckend für alle Lehrer*innen regelmäßig anzubieten.
- Die Formate der Fortbildungen müssen als Veranstaltungen in den Schulen entwickelt und entsprechende Ressourcen für Lehrer*innen (Unterrichtszeiten) und Schüler*innen (Selbstlernkonzepte) bereitgestellt werden.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden sich an die Hochschulen mit der Forderung, die inklusionspädagogischen Anteile als Querschnittsthema in allen Lehramtsstudien und Lehrfächern deutlich zu erweitern.
Lernen - voneinander und miteinander
Die Vermittlung von Verständnis und Wertschätzung zu Diversität, insbesondere gegenüber Menschen mit einer Behinderung, unterschiedlicher sexueller und geschlecht-licher Identität, unterschiedlichen Glaubens oder Herkunft sowie die Aufklärung über deren jeweiliger Belange sollte selbstverständlich ein Bestandteil des Unterrichts, des Schullebens und der pädagogischen Grundhaltung einer jeden Lehrkraft sein.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, Schulbücher und -materialien in jeder Hinsicht (haptisch, optisch und inhaltlich) barrierearm zu gestalten. In Abbildungen und Texten sollten Personen aller Bevölkerungsschichten, unabhängig ihrer Hautfarbe, des Aussehens oder sexueller und geschlechtlicher Identität abgebildet werden.
- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern mehr Diversität in den Lehrmedien und ihren Formaten, z.B. durch Übersetzung in verschiedene Sprachen (inkl. Braille-Schrift).
Inklusion als gesamtgesellschaftlicher Prozess
Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, in dem Schule zwar eine Schlüsselrolle spielt, aber sicherlich nicht der einzige Bereich ist, der sich verändern muss. Frühkindliche Bildung, Jugendhilfe, berufliche Bildung usw. – Inklusion ist in jedem gesellschaftlichen Bereich ein Menschenrecht. Deshalb sind die hier geforderten Maßnahmen nur kleine Schritte auf einem langen Weg. Inklusion gelingt nur in einer Gesamtstrategie. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern:
- Die Landesregierung möge eine Gesamtstrategie Inklusion entwickeln für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
- Die Landesregierung möge die Umsetzung ihres "Behindertenpolitischen Maßnahmepakets 2.0" auswerten und für die Jahre 2022-2024 fortschreiben.
- Das Land möge Kommunen unterstützen in der Entwicklung inklusiver kommunaler Bildungslandschaften, in denen Schule, Kita, Schulträger, Schulaufsicht, freie Bildungsträger miteinander verzahnt agieren. Einbezogen werden sollen dabei auch die Beratungsstrukturen des Landes und der Kommunen – zur Einschulung, Erziehung, Förderung.
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