Status: | Beschluss |
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Beschluss durch: | Parteirat |
Beschlossen am: | 13.12.2021 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Arbeits- und Gesundheitsschutz – Pandemie und neue Gefährdungen erfordern neue Schutzmaßnahmen
Beschlusstext
Arbeits- und Gesundheitsschutz – Pandemie und neue Gefährdungen erfordern neue Schutzmaßnahmen
Bündnis 90/Die Grünen im Land Brandenburg setzen sich dafür ein, einen hohen Arbeitsschutzstandard zu gewährleisten, Defizite zu erkennen und auszugleichen. Viele Beteiligte müssen zusammenwirken, um das zu erreichen, darunter Sozialpartner, gesetzliche Unfallversicherungsträger, gesetzliche Krankenversicherung und Aufsichtsbehörden. Arbeits- und Gesundheitsschutz muss sich sowohl auf das Verhalten der Menschen als auch auf die Verhältnisse richten; so kann es dem Gesundheitsschutz dienen, Arbeitnehmer*innen darin zu schulen, mit Stress besser umzugehen; gleichzeitig ist es sinnvoll, dass der Arbeitgeber Stressursachen am Arbeitsplatz reduziert. Wir stehen für Fördern bei der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen und für Fordern beim Einhalten der Vorgaben zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Unsere Aufgabe als Bündnis90/Die Grünen in Brandenburg sehen wir darin, mit den auf Landesebene zur Verfügung stehenden Mitteln an diesem Ziel mitzuarbeiten.
Menschen, die durch eine Covid-Erkrankung Schäden erlitten haben, können auf unsere Unterstützung bauen. Aufgrund der Erfahrungen der Corona-Pandemie bereiten wir uns für mögliche weitere Pandemien gut vor.
Arbeitgeber beim Arbeits- und Gesundheitsschutz fördern und fordern
Verantwortlich für den Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt sind die Arbeitgeber. Die gesetzliche Unfallversicherung und die Landesbehörden für den Arbeits- und Gesundheitsschutz unterstützen sie dabei und sorgen für die Einhaltung der Vorgaben des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Wir wollen
- die Prävention insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben voranbringen durch Beratungs- und Unterstützungsangebote zum Arbeitsschutz, betriebliche Gesundheitsförderung, Eingliederungsmanagement, Führungskräftequalifizierung sowie zum Schutz der Beschäftigten vor Gewalt und Mobbing. Mediation soll als Möglichkeit zur Bearbeitung von Konflikten am Arbeitsplatz bekannter gemacht und ihr Einsatz als Beratungs- und Unterstützungsangebot gefördert werden. Das Sozialpartnerprojekt „Netzwerk KMU-Gesundheitskompetenz“ soll gestärkt und ausgeweitet werden. Bislang kaum genutzte Präventionsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sollen in Brandenburg künftig vollständig für den vorbeugenden Gesundheitsschutz eingesetzt werden.
- Gesundheitsziele für die Arbeitswelt im Land Brandenburg entwickeln, wie in der „Landesrahmenvereinbarung zu Umsetzung der nationalen Präventionsstrategie“ vorgesehen. Der „Arbeitskreis Arbeit und Gesundheit“ beim Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg (MSGIV) soll den Auftrag erhalten, diesen Prozess zu starten und zu steuern.
- die Attraktivität des Berufsbilds und Tätigkeitsfelds Arbeitsmedizin fördern, um die Zahl der Betriebsärzt*innen zu steigern. Die Landesregierung wird aufgefordert, einen Lehrstuhl für Arbeitsmedizin an einer Hochschule in Brandenburg einzurichten.
- dass Schwerpunktprogramme des LAVG zur Überwachung der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben sind in Arbeitsbereichen von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung und/oder Problemlage fortgeführt und intensiviert werden. Sie sollen künftig verstärkt Arbeitsbereiche mit besonderen psychischen Belastungen einbeziehen, darunter zeitnah die Altenpflege. Das LAVG berichtet in seinem Jahresbericht, ob und inwieweit Schwerpunktprogramme nach längerer Frist zu messbaren Erfolgen geführt haben.
- dass das Land Brandenburg die Betriebsbesichtigungs-Quote nach dem Arbeitsschutzkontrollgesetz (5 % der Betriebe jährlich) im Jahr der nächsten Landtagswahl (2024), nicht erst zum letztmöglichen Termin 2026 erfüllt.
- den Rückgang der Betriebsbesichtigungen stoppen und umkehren. Dazu ist das Personal auf den erforderlichen Umfang aufzustocken. In einer ersten Sofortmaßnahme sind 16 zusätzliche Aufsichtsbeamt*innen mit der Kernaufgabe Arbeitsschutz nach § 21 Arbeitsschutzgesetz einzustellen.
- die Zahl der Aufsichtspersonen auf das von der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der ILO zugesicherte Maß (1:10.000 Beschäftigte) anheben.
Gesundheitsgefährdung durch psychische Belastungen am Arbeitsplatz
Die Zunahme der Gesundheitsgefährdung durch psychische Belastungen am Arbeitsplatz ist ein seit vielen Jahren laufender Prozess und stellt eine der großen Veränderungen in der Arbeitswelt dar. Das gilt für alle Bereiche der Wirtschaft. Besonders betroffen sind aber auch Frauen und Männer in Sorge-Berufen. Gesundheitsgefährdung durch psychische Belastungen wird bislang zu wenig ernstgenommen, obwohl sie große individuelle, gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Schäden durch lange Krankheits- und Rehabilitationszeiten sowie Frühverrentungen verursacht. Wir wollen
- hinreichend konkrete und verpflichtende Regelungen für den Umgang mit arbeitsbedingter psychischer Belastung in einer Arbeitsschutzvorschrift niederlegen. Die Landesregierung wird aufgefordert, im Bundesrat eine Initiative für eine „Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit“ zu ergreifen. Sie soll dabei an den vom Bundesrat erfolglos eingebrachten Entwurf von 2013 anknüpfen.
- auf Landesebene einen „Runden Tisch Gefährdung durch psychische Belastungen“ (Arbeitstitel) mit Arbeitgeberverbänden, betrieblichen Interessenvertretungen und Gewerkschaften, Koordinierungsstelle Betriebliche Gesundheitsförderung der gesetzlichen Krankenversicherung, gesetzlichen Unfallversicherungsträgern und LAVG mit dem Ziel, Maßnahmeprogramme zu entwickeln und umzusetzen. Dazu muss die Landesregierung eine klare Zuständigkeit für die Federführung festlegen.
Corona–Pandemie – Geschädigte unterstützen und Menschen jetzt und in Zukunft schützen
Die Corona-Pandemie erfordert betrieblichen Infektionsschutz, medizinische Versorgung, Nachsorge sowie soziale und finanzielle Unterstützung von Menschen mit Langzeitschäden. Das wollen wir sicherstellen. In der Pandemie haben wir Erfahrungen mit Stärken und Schwächen gemacht, die wir für die Vorbereitung auf künftige Pandemien nutzen müssen. Wir wollen
- auf Corona bezogene Gefährdungsbeurteilungen in den Betrieben flächendeckend sicherstellen und die erfolgreiche Kooperation der Partner der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bei der Erarbeitung der Arbeitsschutzregel SARS-CoV-2 2020 auf Landesebene nachbilden.
- den möglichen Anstieg von Berufskrankheiten und Langzeitfolgen beobachten, Maßnahmen vorbereiten und ausreichende Kapazitäten in der Rehabilitation für von Langzeitfolgen Betroffene schaffen. In Brandenburg gibt es viele Rehabilitationseinrichtungen. Die vorhandenen Möglichkeiten sind für die Behandlung von Long-Covid-Geschädigten zu nutzen und auszubauen.
- Beweiserleichterung in der gesetzlichen Unfallversicherung für Beschäftigte erreichen, die während ihrer Erwerbstätigkeit Langzeitschäden durch Covid-19 erlitten haben. Die Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit muss erleichtert werden.
- Erfahrungen aus der Corona-Pandemie systematisch auswerten, Erkenntnisse aus der Risikoanalyse des RKI 2012 einbeziehen und ein landesbezogenes Vorbeugungsprogramm für mögliche weitere Pandemien auflegen. Darin sollen u.a. Bevorratung von Schutzmaterial und Reaktionspläne enthalten sein. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist für den Infektionsschutz zuständig. Er wird gestärkt und aufgewertet. Krisenvorbeugung erfordert, Reservekapazitäten einzuplanen und zu finanzieren. Wir begrüßen den Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) von Bund und Ländern (September 2020). Die Landesregierung muss darauf hinwirken, dass er vollständig umgesetzt wird und das Land der Vereinbarung entsprechend weitere Maßnahmen ergreift. Dazu gehört u.a., dass die brandenburgischen Kommunen Sicherheit bekommen, dass sie die vereinbarten zusätzlichen Stellen auch über das Jahr 2026 hinaus finanzieren können. Wir fordern die Landesregierung auf, bis zum Jahresende 2022 dazu einen Plan zu
erarbeiten.
Begründung
Zur Einleitung
Der Koalitionsvertrag für Brandenburg sieht vor: „Die Kontrolle und Durchsetzung von Arbeits- und Sozialrechten werden verstärkt, wobei der Fokus besonders auf der Bekämpfung von Schwarzarbeit, Lohndumping, unbezahlten Überstunden und Sozialversicherungsbetrug liegt.“
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig der Arbeitsschutz für die Gesundheit der Arbeitnehmer*innen, für das Funktionieren unserer Gesellschaft und für das Fortbestehen wichtiger wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeiten ist. Daher muss der Weg zur Erholung und erneuten Steigerung der Produktivität auch die erneuerte Verpflichtung beinhalten, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in den Vordergrund zu stellen und die Synergien zwischen Arbeitsschutz und öffentlicher Gesundheitspolitik zu verbessern.
Neben der Gesundheit und dem Wohlbefinden gibt es auch starke wirtschaftliche Argumente für ein hohes Schutzniveau für Arbeitnehmer*innen. Schätzungen zeigen, dass jeder Euro, der in Arbeitsschutz investiert wird, sich im Schnitt um mehr als das Doppelte für die Arbeitgeber auszahlt.
Die EU-Kommission schreibt im Strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021–2027 vom 21.6.2021 „Bereits vor der Pandemie waren etwa 84 Millionen Menschen in der EU von psychischen Problemen betroffen. Die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU sind der Meinung, dass Stress an ihrem Arbeitsplatz häufig vorkommt, und Stress trägt zu etwa der Hälfte aller Fehltage bei. Fast 80 % der Führungskräfte sind besorgt über arbeitsbedingten Stress.“ Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten unter anderem dazu auf,
- sich auf die Nutzung digitaler Werkzeuge konzentrieren, um die Arbeitsaufsicht effizienter zu gestalten, indem sie Verstöße gegen die Rechtsvorschriften sowohl verhindern als auch aufdecken;
- „Peer-Reviews“ zu organisieren, die sich mit arbeitsplatzbezogenen psychosozialen und ergonomischen Fragen befassen;
- die Überwachung und Datenerfassung zur Situation psychischer und psychosozialer Risiken in allen Sektoren zu stärken.
- Erkennung von Risiken in Berufen, die lange Zeit übersehen oder als „leichte Arbeit“ angesehen wurden (z. B. Pflegekräfte oder Reinigungskräfte).
Zum Abschnitt Arbeitgeber beim Arbeits- und Gesundheitsschutz fördern und fordern
So wie es mit der Förderung der Fachweiterbildung “Ärztin/Arzt für Allgemeinmedizin“ gelungen ist, die Zahl der Hausärzt*innen zu steigern (§75a SGB V), könnte auch dem Mangel an Fachärzt*innen für Arbeitsmedizin erfolgreich begegnet werden. Ein Lehrstuhl für Arbeitsmedizin kann beispielsweise in das Konzept für die Gesundheitsregion Lausitz aufgenommen werden. Das Land Brandenburg sollte den Lehrstuhl gezielt interdisziplinär und innovativ anlegen und einen Schwerpunkt auf geschlechtsspezifische arbeitsmedizinische Erkenntnisse legen.
Auf Bundesebene hat sich die Zahl der Betriebsbesichtigungen in den vergangenen zehn Jahren halbiert, durchschnittliche Zeitraum zwischen zwei (möglichen) Betriebsbesichtigungen von 10,5 auf 22,0 Jahre verlängert. Ein ähnliches Bild zeigt der Arbeitsschutzbericht Brandenburg 2019 [Vergleichszahlen 2009 in eckigen Klammern]: „Im Jahr 2019 waren im Betriebsstätten-Kataster der Arbeitsschutzverwaltung Brandenburg 64.954 [2009=72.914] Betriebsstätten mit 818.956 [2009=770.597] Beschäftigten sowie 2.931 Betriebsstätten ohne Beschäftigte registriert. Die Kleinbetriebsstätten (1 bis 19 Beschäftigte) dominierten mit einem Anteil von 84 % den Bestand. ... In den Betriebsstätten erfolgten 2.170 [2009=7.229] eigeninitiierte Besichtigungen. ... In weiteren 2.695 [2009=3.621] Fällen war ein besonderer Anlass der Grund für eine Besichtigung.“
Auch die EU fordert in ihrem Strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021–2027 „dem rückläufigen Trend bei der Zahl der Arbeitsinspektionen in einigen Mitgliedstaaten durch eine Verstärkung der Inspektionen vor Ort entgegenzuwirken.“
Zum Abschnitt Psychische Belastungen
Wenn psychische Belastung zu somatischer oder psychischer Erkrankung führt, fließt kein Blut. Das darf aber kein Freibrief für Wegsehen sein. Während es für Arbeitsunfälle ein gut funktionierendes Netz ärztlicher Versorgung und Rehabilitation gibt („Durchgangsarzt“), gibt es beispielsweise für arbeitsbedingte psychische Erkrankungen kein vergleichbares Netz von „Durchgangspsychotherapeut*innen“.
Psychische Erkrankungen sind nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweitteuerste Erkrankungsgruppe. Die direkten Kosten zur Behandlung psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) betragen jährlich 44 Mrd Euro, 13,1 % der Ausgaben insgesamt (Zahlen für 2017; 2008 waren es: 23 Mrd, 11,3 % der GKV-Ausgaben). Tendenz stetig steigend. Hinzu kommen die indirekten Kosten für Krankheitsausfall usw. Sie werden auf 21 Mrd. Euro Ausfall von Bruttowertschöpfung veranschlagt. Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache für eine frühzeitige Berentung. Frauen sind sowohl bei den Erkrankungen als auch den Frührenten deutlich häufiger betroffen.
Die geforderte „Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit“ hätte in der betrieblichen Praxis eine Funktion, die mit der Gefahrstoffverordnung oder der Arbeitsstättenverordnung vergleichbar wäre.
Zum Abschnitt: Corona–Pandemie – Geschädigte unterstützen und Menschen jetzt und in Zukunft schützen
Im Pakt für den ÖGD ist unter anderem vereinbart, dass der Aufwuchs von Stellen bei den kommunalen Gesundheitsämtern über 2026 nachhaltig sein muss und die Länder dazu ihren Beitrag leisten. Vereinbart ist, dass sich Bund und Länder 2023 über dieses Thema austauschen.
In der EU ist die Anerkennung von COVID-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall bereits in 25 Mitgliedstaaten Realität. Frankreich beispielsweise hat im September 2020 eine Verordnung erlassen, die bei Beschäftigten im Gesundheitswesen und ähnlichen Berufen in Fällen einer schweren Atemwegsinfektion die automatische Anerkennung vorsieht. Außerdem ist in Frankreich eine Entschädigung für solche Fälle vorgesehen. In Dänemark können Fälle von COVID-19 sowohl als Berufskrankheit als auch als Arbeitsunfall in allen Berufen anerkannt und entschädigt werden, nachdem die zuständigen Behörden eine Bewertung vorgenommen haben. Die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf,
- Vorsorgepläne für künftige Krisen in den nationalen Arbeitsschutzstrategien auszuarbeiten, einschließlich der Umsetzung von EU-Leitlinien und -Instrumenten;
- bis 2023 Koordinierungsmechanismen zwischen den Behörden für öffentliche Gesundheit und Arbeitsschutz zu entwickeln;
- die Überwachung und effektive Inspektionen der Arbeitsschutzverpflichtungen gegenüber Saisonarbeitskräften in risikoreichen Berufen auszubauen;
- die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den Arbeitsaufsichtsbehörden und anderen einschlägigen nationalen Behörden zur Verbesserung der Gesundheits- und Sicherheitsstandards in allen Beschäftigungsbereichen zu stärken.